Viele Maßnahmenkritiker rechnen dem Lockdown und den möglichen daraus resultierenden Kollateralschäden, wie Vereinsamung, Zukunftsängste, etc. hauptursächlich die beobachtete Übersterblichkeit zu und nicht den COVID-19-Sterbefällen. Gibt es Hinweise, die das bestätigen?

Das drastische Eindämmungsmaßnahmen, wie ein Lockdown oder eine Krise an sich, auf die Sterblichkeit auswirken, kann nicht bestritten werden. Es gibt entsprechende Erfahrungen aus anderen Krisen, z.B. der Finanzkrise 2008. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen aber nicht, dass die Übersterblichkeit hauptursächlich durch die Kollateralschäden des Lockdown zuzuordnen sind. Die Übersterblichkeit korreliert sehr gut mit der Anzahl der an/mit COVID-19 Verstorbenen. So dass COVID-19 maßgeblich für die Übersterblichkeit während des Lockdowns angesehen werden muss. Es wäre aber unplausibel, Sterbefälle durch die Lockdownmaßnahmen auszuschließen, auch wenn man sie jetzt noch nicht quantitativ belegen kann. Überschätzen sollte man sie aber auch nicht.

Abstract

Zuerst kann man für Deutschland, im Vergleich zum europäischen Ausland, keine große Übersterblichkeit feststellen. Allerdings ist zwischen der 10. und 20. Kalenderwoche (KW) aus den Daten des Statistischen Bundesamtes ​[1]​ eine signifikante Übersterblichkeit festzustellen. Der Lockdown begann am Anfang der 13. KW und endete beim letzten Bundesland in der 19/20. KW.

In diesem Artikel wird der gesamte Bereich der beobachteten Übersterblichkeit von der 11. bis zur 20. KW bewertet. In diesem Bereich sind auch Sterbefälle, die mit oder an COVID-19 gestorben sind, aufgezeichnet. Diese werden mit der Übersterblichkeit abgeglichen.

Die nachfolgende Grafik gibt eine Übersicht über den bewerteten Zeitraum.

Übersterblichkeitsübersicht
Abb. 1: Wöchentliche Sterbefallzahlen für Deutschland ​[1]​

Anmerkung: COVID-19 Sterbefälle sind hier alle Sterbefälle, die an oder mit COVID-19 gestorben sind bzw. nach den Kriterien des Robert-Koch-Instituts (RKI) als COVID-19 Tote gelten.

Dieser Artikel soll bewerten, ob der Vorwurf der Maßnahmen- und Lockdownkritiker gerechtfertigt ist, dass die Übersterblichkeit während des Lockdowns hauptsächlich durch Kollateralschäden des Lockdowns selbst und nicht durch die COVID-19-Sterbefälle verursacht wurde.

Wie wird die Übersterblichkeit bestimmt?

Das Statistische Bundesamt berechnet die Übersterblichkeit des aktuellen Jahres, indem es sie mit dem 4-jährigen Vorjahresmittelwert vergleicht. Lag, z.B. die mittlere Sterblichkeit in den Jahren 2016-2019, in der 12. KW bei 19.555 Toten und 2020 in der gleichen Woche bei 19.703 Toten, ergibt sich eine Übersterblichkeit von 148 Toten für die 12. KW 2020. Eine Untersterblichkeit ist natürlich auch möglich.

In der hier verwendeten Sonderauswertung sind die Zahlen ab 2019 vorläufig und bestehen aus reinen Rohdaten, da die endgültigen und plausibilisierten Daten noch nicht vorliegen. Die vollständige plausibilisierte Sterbefallstatistik eines Jahres liegt erst zur Mitte des jeweiligen Folgejahres vor ​[2]​. Einschränkungen für diese Rohdaten sind auf Seite 3 von ​[2]​ beschrieben. Diese geringen Ungenauigkeiten sollten aber für diese grobe Beurteilung kein Problem darstellen.

Methodik

Um die Relevanz der COVID-19 Sterbefälle mit der beobachteten Übersterblichkeit im Zeitraum des Lockdowns zu bewerten, wird der Bereich der Kalenderwochen 11-20 verwendet. Zwischen der 11. und 12. KW beobachtet man den Übergang einer vorangegangenen Untersterblichkeit in eine deutliche Übersterblichkeit, die bis zur 20. KW ununterbrochen anhält. In diesem Zeitraum sind auch bestätigte COVID-19 Sterbefälle dokumentiert, die mit der generellen Übersterblichkeit abgeglichen werden.

Um die Übersterblichkeit zu berechnen, werden die wöchentlichen Sterbefälle von 2020 von dem 4-Jahresmittel der Vorjahre (2016-2019) abgezogen. Diese werden mit den an/mit COVID-19 verstorbenen verglichen und auf Korrelation überprüft. Bei schlechter Korrelation, mit einem Korrelationskoeffizienten r << 0,5 sollte kein oder ein nur schwacher Zusammenhang zwischen den COVID-19-Sterbefällen und der Übersterblichkeit vorliegen. Damit wäre die Aussage der Kritiker bestätigt. Bei r >> 0,5 wäre die Ursache der Übersterblichkeit eher bei den COVID-19 Toten zu suchen.

Ergebnisse

Übersterblichkeit - COVID-19 Sterbefälle
Abb. 2: Übersterblichkeit und COVID-19 Sterbefälle

Die grafische Darstellung der Übersterblichkeits- und COVID-19 Sterbefälle zeigt bereits im Flächendiagramm eine gute Korrelation. Sichtbar ist, dass die COVID-19 Fälle den überwiegenden Teil der Übersterblichkeit bedeckt. Rechnerisch bestehen ca. 90% der Übersterblichkeit aus COVID-19 Sterbefällen.

Abb 3: Korrelation Übersterblichkeit- und COVID-19 Sterbefälle

Die Korrelationsanalyse ergibt einen Korrelationskoeffizienten von 0,97 (>0,8 starke Korrelation).

Diskussion

Der Vergleich der Übersterblichkeits- mit den COVID-19 Sterbefällen und die Korrelationsanalyse zeigt eine sehr gute Übereinstimmung.

Aufgrund der Mittlung über die Jahre 2016-2019 für die Basissterblichkeit lassen sich die Werte aus Abbildung 2 nicht vollständig deckungsgleich bewerten. Das zeigt auch, dass in einigen Wochen des Bewertungszeitraums die COVID-19 Sterbefälle die Übersterblichkeit übertreffen. Berücksichtigt man nur die Zahlen der COVID-19 Sterbefälle, die kleiner sind als die Übersterblichkeit und setzt im umgekehrten Fall die COVID-19 Sterbefälle gleich der Übersterblichkeit (KW 11, 17, 19, 20), bestehen ca. 89% der Übersterblichkeit aus COVID-19 Sterbefällen. Bei Berücksichtigung aller Rohwerte ist der Anteil an COVID-19 Toten an der Übersterblichkeit mit ca. 90% gleich hoch.

Aus den Werten kann man aber auch ablesen, dass sich die Übersterblichkeit nicht nur aus COVID-19 Toten zusammensetzt. Ob sich aber diese Differenz von ca. 10% aus den Kollateralschäden der Lockdownmaßnahmen:

  • Selbstmorde, durch Vereinsamung oder Perspektivitätsverlust (Arbeitslosigkeit, Konkurs),
  • vorzeitiges Versterben durch Vereinsamung in Alten- und Sensiorenheimen oder anderen Einrichtungen,
  • Versterben durch Verschleppen von Krankheiten (z.B: Herzinfakte) aus Angst vor Ansteckung in medizinischen Einrichtungen,
  • negative Auswirkungen auf die Gesundheit,
  • andere Gründe,

oder teilweise durch statistischen Unsicherheiten begründen lässt, kann derzeit nicht festgestellt werden, da belastbare Zahlen fehlen.

Bzgl. Selbstmorde liegen aber schon jetzt vorläufige Daten aus 7 Bundesländern​*​ vor (52% der deutschen Bevölkerung). Die Augsburger Allgemeine und die Deutsche Welle haben sie ausgewertet. Diese zeigen keinen Anstieg bei den Selbstmorden während des Lockdowns ​[3], [4]​. Die Zahlen stammen aber vom Mai. Neuere und vollständigere Zahlen sind nicht bekannt. Zur abschließenden Beurteilung wird man sicher noch abwarten müssen.

Schaut man sich die Sterbestatistik vor dem Lockdown an, Januar bis März, von KW 1 bis 11, sieht man eine deutliche Untersterblichkeit.

Abb 4: Wöchentliche Sterbefallzahlen für Deutschland 2020 ​[1]​

Da aber zu diesem Zeitpunkt noch keine nachweislich pandemiebedingten Sterbefälle aufgetreten sind und der Zeitraum deutlich außerhalb des Lockdowns liegt, haben sie für diese Betrachtung keine Bedeutung. Die Untersterblichkeit mag aus der schweren saisonalen Influenzaepidemie von 2018 herrühren, die in das 2016-2019-Mittel eingegangen ist und dieses anhebt. Die Abbildung 4 zeigt dies auch deutlich. Man erkennt auch, dass der Peak der Grippesaison 2017/2018 vor dem der COVID-19-Sterbefälle lag, am Ende der abflauenden Grippesaison. Ein signifikanter Einfluss des Influenzavirus auf die Sterbefälle ist nicht plausibel. Das zeigt auch die Untersterblichkeit während der Grippesaison.

Eine weitere Unsicherheit sind die Kriterien, ab wann ein Toter als COVID-19 Sterbefall gilt. Also, ob jemand mit oder an Corona gestorben ist. Generell gilt laut RKI ein Toter dann als COVID-19 Sterbefall, wenn SARS-CoV-2 nachgewiesen wurde. Das muss aber weder heißen, dass der Virus hauptursächlich, noch nebenursächlich für den Tot verantwortlich war. Die Infektion könnte auch atypisch verlaufen und der Patient an Vorerkrankungen verstorben sein. Das zu beurteilen ist nur durch Obduktionen möglich. Eine nebenursächliche Verantwortung wäre sicher selbst bei einer Obduktion schwerer festzustellen. So kann es zu einer Überschätzung der COVID-19 Sterbefälle kommen.

Verschiedene Untersuchungen kamen diesbezüglich zu folgenden Ergebnissen: In Italien gibt das dortige Amt für Statistik und das Gesundheitsamt eine Rate von 89% der Corona-Toten ​[5]​ an, bei denen Corona die Todesursache war. In Deutschland hat Prof. Püschel aus Hamburg 65 mit Corona infizierte Tote obduziert. 94% sind an dem Virus verstorben, auch wenn nach Aussage des Pathologen der Virus „der letzte Tropfen“ war, da alle Patienten an mindestens einer schweren Vorerkrankung litten ​[6]​ und lt. Püschel nur noch wenige Monate gelebt hätten. Der deutsche Pathologenverband gibt bei 154 Obduktionen 86% an. Im Gegensatz zu Prof. Püschel verlieren die Toten aber lt. Friemann, dem Leiter der AG Obduktion, nicht nur wenige Monate, sondern viele Jahre Lebenszeit ​[7]​. Abschließend kann man davon ausgehen, dass weit über 80% der mit SARS-CoV-2 infizierten Toten auch an COVID-19 gestorben sind.

Allerdings werden Sterbefälle, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren, aber nicht getestet wurden, da sie zu Hause oder im Seniorenheim gestorben sind, übersehen. Das führt zu einer Unterschätzung der COVID-19 Sterbefälle. ​[8]​ kommt zu den Schluss, dass zumindest in Italien die COVID-19 Sterbefälle deutlich unterschätzt wurden. Ob man in Deutschland auch von einer solchen Unterschätzung ausgehen muss, ist nicht bekannt. Das RKI geht eher von einer Unter- als einer Überschätzung aus. Aber aufgrund der deutlich anderen Lage in Deutschland, dürfte die Unterschätzung deutlich kleiner sein, als in Italien.

Faktenchecks ​[9]–[11]​ besprechen weitere Hintergründe. Inwieweit sich unter- und überschätzte Sterbefälle in Deutschland kompensieren, kann man nicht abschließend sagen.

Fazit

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes und der durchgeführte Vergleich der Übersterblichkeit mit den COVID-19 Sterbefällen, kann die Annahme der Kritiker, dass sich die Übersterblichkeit im Lockdownzeitraum hauptsächlich aus Kollateralschäden der Lockdownmaßnahmen gründet, nicht belegen. Die sehr starke Korrelation beider Kurven macht das sehr unwahrscheinlich.

Über- oder Unterschätzungen der COVID-19 Sterbefälle, also ob jemand an oder mit SARS-CoV-2, oder ohne Test Zuhause oder im Heim verstorben ist, wurden hier nicht berücksichtigt, da gerade für den letzten Fall überhaupt keine Zahlen zu finden waren. Es wird hier von einer Kompensierung ausgegangen.

Die Übersterblichkeit im März und April 2020 wurde überwiegend durch die COVID-19 Sterbefälle – ca. 90% – verursacht. Wenn man dann berücksichtigt, dass von den COVID-19 Sterbefällen 86% ​[7]​ bis 92% ​[6]​ an und nicht mit Corona gestorben sind, ist ca. 80% der Übersterblichkeit auf die COVID-19 Sterbefälle die an Corona verstorben sind zurückzuführen.

Trotzdem lassen sich Sterbefälle, z.B. durch Selbstmorde, verschleppte Krankheiten, etc. nicht ausschließen und werden ihren Teil zur Übersterblichkeit beitragen. Diese darf aber nicht überschätzt werden.

Quellen

  1. [1]
    Statistisches Bundesamt, “Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland,” Sterbefallzahlen und Übersterblichkeit, Jul-2020. [Online]. Available: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/Gesellschaft/bevoelkerung-sterbefaelle.html. [Accessed: 10-Aug-2020]
  2. [2]
    Statistisches Bundesamt, “Sonderauswertung Sterbefälle – Fallzahlen nach Tagen, Wochen, Monaten, Altersgruppen und Bundesländern für Deutschland, 2016-2020,” Statistisches Bundesamt (Destatis), 2020.
  3. [3]
    K. Max, “So hat sich die Suizidrate in Deutschland während der Corona-Krise entwickelt,” Augsburger Allgemeine, p. Online, 05-May-2020 [Online]. Available: https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/So-hat-sich-die-Suizidrate-in-Deutschland-waehrend-der-Corona-Krise-entwickelt-id57332446.htmlhttps://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/Gesellschaft/bevoelkerung-sterbefaelle.html. [Accessed: 12-Jun-2020]
  4. [4]
    K. Ben, “Weniger Selbstmorde in Corona-Zeiten,” Deutsche Welle, p. Online, 30-May-2020 [Online]. Available: https://www.dw.com/de/weniger-selbstmorde-in-corona-zeiten/a-53620594
  5. [5]
    I. Nationale di Statistika, “Impact of covid-19 epidemic on mortality: causes of death,” p. 7, 2020 [Online]. Available: https://www.istat.it/it/files//2020/07/Report_ISS_Istat_Inglese.pdf
  6. [6]
    “Rechtsmediziner Püschel: 65 von 65 Corona-Toten hatten Vorerkrankungen | Nordkurier.de,” 2020. [Online]. Available: https://www.nordkurier.de/aus-aller-welt/65-von-65-corona-toten-hatten-vorerkrankungen-2139135304.html. [Accessed: 26-Aug-2020]
  7. [7]
    “Pathologenverband widerlegt Hamburger Forscher – 86 Prozent sterben direkt an Corona und verlieren zehn Jahre Lebenszeit,” Cicero Online. [Online]. Available: https://www.cicero.de/innenpolitik/pathologenverband-Klaus-Pueschel-Todesursache-Corona. [Accessed: 26-Aug-2020]
  8. [8]
    M. Rizzo, L. Foresti, and N. Montano, “Comparison of Reported Deaths From COVID-19 and Increase in Total Mortality in Italy,” JAMA Intern Med, 2020, doi: 10.1001/jamainternmed.2020.2543. [Online]. Available: https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/2768649. [Accessed: 26-Aug-2020]
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    “#Faktenfuchs: Wie werden Corona-Todesfälle gezählt?,” BR24, 2020. [Online]. Available: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-so-werden-corona-todesfaelle-gezaehlt,RtnpYVL. [Accessed: 26-Aug-2020]
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    “Wie viele Menschen sterben an Corona?,” quarks.de, 2020. [Online]. Available: https://www.quarks.de/gesellschaft/wissenschaft/wie-viele-menschen-sterben-an-corona/. [Accessed: 26-Aug-2020]
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    “Wird nun AN oder MIT dem Coronavirus gestorben?,” mimikama, 2020. [Online]. Available: https://www.mimikama.at/aktuelles/coronavirus-an-oder-mit/. [Accessed: 26-Aug-2020]

  1. ​*​
    Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Thüringen, Berlin, Saarland und Bremen